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»Alles in Allem und doch im Maß«
Ferdinand Ullrich
... Die Fläche bei ihm ist vollends ausgefüllt.
Und als würde die Zweidimensionalität nicht ausreichen für die Überfülle
der Formen und Dinge, wird der Raum in die Tiefe des Bildes erweitert,
um Platz zu schaffen für eine überbordende Malerei, in die die Dinge verwoben
sind. Fülle ist das entscheidende Merkmal der Bildwerke von Bernhard Sprute.
Das beginnt schon Anfang der 80er Jahre, als er mit einem gleichsam enzyklopädischen
Ansatz systematisch den natürlichen und artifiziellen Erscheinungen der
Welt beizukommen versucht. Zu Anfang sind die Bildwerke wie in einem Atlas
übersichtlich geordnet und beschrieben. Schließlich aber scheint er der
Überfülle nicht mehr Herr zu werden und die Malerei gewinnt die Oberhand,
überwuchert das sorgfältig ausgearbeitete System. Das Bild ist gewissermaßen
das Opfer des eigenen Systems geworden, das darin bestand, die Dinge und
ihre einzelnen Erscheinungen zu ihrem Recht kommen zu lassen und gleichzeitig
die malerischen Interaktionen zu formulieren. Von der Übersichtlichkeit
in die Unübersichtlichkeit, von der Ordnung in das Chaos - so könnte man
die Entwicklung beschreiben. Unter der Prämisse eines diskursiven Ansatzes
muss man von einem Verlust an Klarheit und gedanklicher Schärfe sprechen.
Was aber ist der Gewinn? Es ist die ästhetische Wirkung. Denn bei aller
begrifflichen Schwierigkeit, bei aller Gleichzeitigkeit der Dinge und
Sachverhalte, gewinnt die Form an Komplexität. Es ist das durchaus waghalsige
Ausloten der Grenze zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Dingwelt und
Erlebniswelt. Dazu ist es notwendig, nicht nur einen Blickpunkt einzunehmen,
sondern viele. So herrscht in den Bildern von Bernhard Sprute nicht die
Zentralperspektive vor, sondern die Tiefe und der Raum entstehen aus den
endlosen Überschneidungen und Überlagerungen, die im Malprozess nach und
nach entstanden. Die Simultaneität der Eindrücke äußert sich bildnerisch
in der Gleichzeitigkeit der Perspektiven. So ist das, was wir heute in
den Bildern von Bernhard Sprute sehen, keineswegs "Alles in Allem", in
dem Sinne, dass sich Gegenstände und Bildformen in einem undifferenzierten
Einerlei, in einer spannungslosen Masse entropisch auflösen. Ganz im Gegenteil:
Die Dichte, Sprute nennt das Fülle, ist eben keine absolute, wie das Füllen
eines Wasserglases. Die Aufschichtung des Bildes ist in einem Moment angehalten,
den man als fruchtbaren bezeichnen könnte. Es ist ein Zwischenzustand
erreicht, in dem die Dinge im Bild - Farben, Formen, Gegenstände - sich
in einem noch gerade unterscheidbaren Status befinden. Zudem entwickeln
sich im Sehprozess immer auch Superzeichen, die über dem Maldschungel
schweben, sich kurzfristig aus ihm herauslösen, um im nächsten Augenblick
wieder in der Tiefe des Bildes zu verschwinden. ...
Dr. Ferdinand Ullrich,
Kunsthistoriker u. Fotokünstler, Direktor der Kunsthalle Recklinghausen,
Recklinghausen 1999
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