»Fülle, Überfülle, Fest der Götter« Rosemarie Sprute

Fülle, das ist ein Begriff, der die Entstehungsbedingungen und die unterschiedlichsten Themenbereiche von Bernhard Sprute gleichermaßen umfasst, das ist die Fülle, die uns als sinnenfällige und geistige Natur umgibt und durchdringt, die uns selbst in unserer sinnlichen und geistigen Existenz allererst konstituiert, zu der wir uns immer und überall je anders verhalten - sei das Verhältnis zu ihr hier ein unmittelbares, dort ein reflektierendes, ein annehmendes oder ein angestrengt vermittelndes. Bernhard Sprute hat sich immer schon auf die Fülle als solche, auf die "große Fülle" im Sinne einer "Überfülle" in einem kritisch positiven, konstitutiven Sinn von ursprünglich schaffender Natur eingelassen; sie ist nicht etwa mit der negativen Konnotation der exzessiven Übertreibung zu denken, die unmäßig strapazierten Wörtern wie Materialschwemme, Informationsflut, Reizüberflutung u.a. anhaftet, die auf das Phänomen der Übersättigung an insbesondere optischen Reizen in den farbsüchtigen Medien anspielen (die wiederum längst eine bewusst in Schwarz/Weiß arbeitende Gegenbewegung in Malerei/Film/Fotografie ebenso wie in der Werbung hervorgerufen hat). Das eigene intensive Wahrnehmen und das eigene radikale Bewusstsein von Schöpfungskraft und Schöpfungsakt der Natur und - analog dazu - des menschlichen Geistes ist das eigentliche Anschauungsmaterial Sprutes; diese intensive Wahrnehmung des Phänomens Fülle ist gleichursprünglich mit seiner künstlerischen Konzeption: Gegenstand ist es schon auf den frühen Schautafeln und assoziativen Zeichnungen, auf denen Gedankensammlungen und Assoziationsketten zu unterschiedlichsten Bereichen, seien sie an Sichtbares oder an Intelligibles geknüpft, zum Prinzip erhoben werden; jede Arbeit gibt sich stets als Ausschnitt aus einer unermesslichen Fülle zu erkennen, die der Betrachter mit eigenen Assoziationen und Gedanken je stückweise ergänzen können soll. Die Reihen der Klischeebilder, die das Schema der seriellen Vervielfältigung aufgreifen und mit Schablonenformen, die stereotypes Denken verbildlichen, imitieren, weisen auf die Fülle von Klischeevorstellungen, auf die Fülle von Bildern, die man sich macht, insbesondere von solchen fixen Bildern, für die das sog. "Malerische" eine große Rolle spielt. "Schwanenbilder" und "Pfauenbilder", "Venedigbilder" und "Madonnenbilder" loten hier Ambivalenz und Vielwertigkeiten dieser Sujets aus. Nicht von ungefähr begegnet uns der Kopf auf den Kopfbildern Sprutes stets im Profil: Die Form verweist auf den Begriff, auf die Idee des Kopfes, der der "großen Fülle" "drinnen und draußen" ausgesetzt und angeglichen ist: Dort, wo der Kopf die Außenwelt berührt, ist er Stätte des Sehens und des Einflusses; an und für sich ist er Stätte der Assoziationsfülle und der Gedankenströme, eine Stätte der Koinzidenzen und der Ein"bild"ungskraft, so dass Selbsttätigkeit und Schaffensakt des Geistes mit dem Wesen der schaffenden "großen Fülle" selbst übereinstimmen; beide bezeichnen eine immer im Prozess begriffene, scheinbar chaotische, letztlich aber übergreifend organisierende Ordnung. Der Umgang des Malers mit dieser "Überfülle" lebt von einer ursprünglichen Freude, von einer spontanen Begeisterung, von einem Enthusiasmus für alles, was von sich aus in Form und Farbe paradiesisch-labyrinthisch lebt; auf allen Bildern werden hierarchische, moralisierende Strukturen, die Entscheidungen und Wertungen implizieren, bewusst vermieden: mit den ganz kleinen, sich schlängelnden Farbschlieren, hier verdeckt, dort wieder zum Vorschein kommend, verbindet Bernhard Sprute das Urprinzip produktiven Sehens ebenso wie mit den großen aufdringlich grellen, spiegelnden Lackflächen, die eindringendes Sehen abwehren, den Betrachter irritieren und auf sich selbst zurückwerfen, so dass dieser sein eigenes Vorstellungspotential aktivieren muss. Gerade in der verschwenderischen Anhäufung solch detaillierter Kleinigkeiten, in der Maßlosigkeit vermeintlich unzusammenhängender Einzelheiten, die voller Bewegung nebeneinander, unter- und übereinander oder miteinander arbeiten, wird eine Übersicht über das Bildgeschehen gezielt unmöglich gemacht, und eine Fixierung des Standorts des Malers wird zu einem unendlichen Experiment.
Mit dem Titel "Fest der Götter" scheint ein nicht weiter überbietbarer Superlativ ausgesprochen. Er erinnert an die berühmten venezianischen Mythologien, an die prallvollen Bacchanalien von Bellini oder Tizian, damit gleichzeitig an die Maler, die dem theoretisch tiefgründigen, fast heiliggehaltenen Disegno des Florenz der Renaissance eine andere, eher dionysisch geprägte Mächtigkeit entgegenhalten: die Farbe, die auf ihre Weise die Vernunft mit der Leidenschaft versöhnt. Auf Sprutes Götterfesten geht es nicht etwa um die Darstellung der Götter selbst; diese sind immer nur indirekt anwesend, angezeigt durch ein Füllhorn, das der Abundantia oder der Tyche, gelegentlich auch dem Bacchus gehören kann, durch Versatzstücke klassischer Architektur o. ä. Entscheidend ist das Fest selbst, das durch seine ungewöhnlichen Initiatoren und Teilnehmer geprägt wird: Es geht um ein Fest mit den denkbar anspruchsvollsten, verwöhntesten, mit aus tiefer Leidenschaft sinnlichen Teilnehmern, die als exzessiv die Natur Feiernde bekannt sind. Die Bilder meinen ein solches Fest als höchstes optisches Vergnügen, das eine Augenweide, ein Augenschmaus für den sehendteilnehmenden Betrachter sein soll, dem der Sprung ins paradiesische Zuviel abverlangt wird. In übertragener Bedeutung sind die feiernden Götter hier die enthusiastisch (d. h. gottbegeistert) feiernden Farben: Diese sind aus ihrem Pflichtalltag herausgenommen, sie sind sie selbst, sie leben sich in einer orgiastisch ausgelassenen, explosiven, rauschhaften Weise ekstatisch aus, indem sie sich überlagern und vermischen, indem sie sich gegenseitig stören, bekämpfen und Macht suchen, indem sie gleichzeitig eigenartigste, spontan neuartige, irritierende Formen konstituieren; vergleichbar den wilden Formen der Vegetation, deren Gott (in einem weiteren Sinne) Dionysos/Bacchus ist, der - grundlegend für die Ausformung seines Charakters - in seiner Jugend durch das helfende Eingreifen der Weinreben und Efeuranken (deren zudeckendes Über-Wuchern an die Pflanzenwelt auf Sprutes Bildern erinnert) aus lebensbedrohender Gefahr gerettet wurde. Auch dieser Dionysos, maßlos, unvernünftig, verführend, auf seine spezielle Weise Musaget, will dem Betrachter der ausgelassene Wegbegleiter durch den expressiven Farbtaumel sein, der optisch berauscht und mit Enthusiasmus für die leidenschaftlich sinnliche Macht der Farben erfüllt.

Dr. Rosemarie Sprute, Kunstwissenschaftlerin, Bad Oeynhausen 1995